Behandlungen

Nervenschmerzen diagnostizieren

Von PD Dr. med. Konrad Maurer & Dr. med. Emmanuel Coradi 15.12.2020

Einleitung

Nervenschmerzen bzw. neuropathische Schmerzen und zentralisierte Schmerzzustände kommen leider recht häufig vor und bleiben oft lange unerkannt. Sie gehen mit einem erheblichen Leidensdruck einher und schränken die Lebensqualität der betroffenen PatientInnen entsprechend stark ein.

Beispiele neuropathischer Schmerzerkrankungen

  • Postherpetische Neuralgie
  • Unfallbedingte Nervenverletzung
  • CRPS (Morbus Sudeck)
  • Chronische Rückenschmerzen 
  • Schmerzhafte Polyneuropathie bei Stoffwechselstörungen (z.B. Diabetes mellitus)
  • Nach Chemotherapie
  • Fibromyalgie / Widespread Pain

Klinische Zeichen

Um eine neuropathische Schmerzsymptomatik zu identifizieren und zentralisierte Schmerzsymptome zu finden, sollte in der Untersuchung nachfolgenden klinischen Zeichen gesucht werden:

Hyperalgesie

Ein schmerzhafter Reiz (z.B. Zahnstocher) wird deutlich verstärkt schmerzhaft wahrgenommen.

Hypästhesie

Ein Reiz durch Berührung oder Pieksen wird weniger stark als normalerweise erwartet wahrgenommen.

Allodynie

Ein eigentlich schmerzloser Stimulus (z.B. Berührung mit einem Pinsel oder Watte) wird als schmerzhaft wahrgenommen.

Erhöhte Schmerzsensibilität

Chronische Schmerzen haben oft eine erhöhte Schmerzsensibilität zur Folge, das heisst die Empfindlichkeit für Schmerzen steigt.

WICHTIG: Die Untersuchung soll möglichst an der Stelle maximaler (sensorischer) Symptome durchgeführt werden - jeweils im Vergleich mit einer gesunden, nicht betroffenen Stelle.

QST - Quantitative sensorische Testung

Nervenschmerzen und zentralisierte Schmerzzustände werden im professionellen Setting mittels einer “quantitativ sensorischen Testung” (QST) gesucht und diagnostiziert. QST stellt eine psychophysische Methode dar zur Quantifizierung des Funktionsstatus des somatosensorischen Systems. QST bewertet alle Arten von afferenten (sensiblen) Nervenfasern durch Anwenden von quantitativen und abgestuften Stimuli (abgestufte von-Frey-Haare, mehrere Nadelstichstimuli, Druckalgometer, quantitatives Thermo Testing, Stimmgabel usw.) unter Verwendung spezifischer Testalgorithmen. Um eine QST korrekt durchführen zu können ist eine gewisse Erfahrung und auch eine spezifische Ausrüstung notwendig.

Hinweise auf Nervenschmerzen einfach erkennen

Wichtig zu wissen ist, dass eine QST-Untersuchung zwar sinnvoll sein kann, jedoch NICHT unbedingt notwendig ist um eine neuropathische Schmerzerkrankung zu erkennen. Mit den einfachen “Instrumenten” des IISZ - Neuropathic Pain Detection Kits können Hinweise auf das Vorliegen einer solchen Erkrankung gewonnen werden:

Zahnstocher - Hyperalgesie suchen

In einem mutmasslich neuropathisch schmerzhaften Hautareal wird mittels Zahnstocher ein schmerzhafter Reiz ausgelöst. Wird dieser Reiz, im Vergleich zu einem anderen, “gesunden” Hautareal, als deutlich schmerzhafter wahrgenommen, kann eine Hyperalgesie postuliert werden.

Pinsel - Allodynie suchen

In einem mutmasslich neuropathisch schmerzhaften Hautareal wird mittels Pinsel die Haut “bestrichen” und ein nicht-schmerzhafter sensorischer Reiz ausgelöst. Wird dieser normalerweise nicht-schmerzhafte Reiz als schmerzhaft empfunden, entspricht dies einer Allodynie im untersuchten Areal.

Wäschklammer - Schmerzsensibilität prüfen

Langjährig chronifizierte Schmerzerkrankungen haben oft eine erhöhte Schmerzsensibilität zur Folge. Klemmt man eine Wäscheklammer während 10 Sekunden an ein Ohrläppchen und erfragt unmittelbar danach die empfundene Schmerzintensität auf der “Numeric Rating Scale” NRS (NRS 0 = kein Schmerz, NRS 10 = grösster Schmerz, den man sich vorstellen kann), kann das Vorliegen einer erhöhten Schmerzsensibilität abgeschätzt werden. Ist der angegebene NRS-Wert >6 besteht der Verdacht auf eine erhöhte Schmerzsensibilität des zentralen Nervensystems.

Wann ist eine QST-Untersuchung empfehlenswert?

Wenn klinische Hinweise auf eine neuropathische Schmerzerkrankungen bestehen und eine genauere Abklärung notwendig wird, kann die QST eine hilfreiche diagnostisches Instrument sein. QST ermöglicht es zwischen neuropathischen und nicht-neuropathischen Schmerzzuständen zu unterscheiden.

Wenn standardmäßige elektrophysiologische Tests normal erscheinen und der Verdacht auf eine Neuropathie der kleinen Fasern weiterhin besteht, kann QST Defizite der Funktion der sensorischen Nervenfasern aufdecken.

Sensory Phenotyping

In Zukunft könnte QST für Erstellung eines individuellen, patienten-spezifischen, somatosensorischen Profils („Sensory Phenotyping“) wichtig sein. QST könnte helfen, der Schmerzerkrankung zugrunde liegende Mechanismen zu erkennen und künftig bei therapeutischen Entscheidungen helfen, die auf einer mechanismen-orientierten anti-neuropathischen Schmerztherapie basieren.

Krankheitsverlauf mit QST beobachten

QST kann sensorische Defizite im Laufe der Zeit überwachen und ist nur zur Dokumentation von Schmerzerkrankungen hilfreich. Beispielsweise bei Patienten mit einer (diabetischen) Polyneuropathie, kann QST, einen weiteren sensorischen Verlust erkennen und somit dazu beitragen, potentielle Komplikationen wie diabetische Fußgeschwüre zu vermeiden.

Einschränkungen von QST

Die QST ist eine subjektive Untersuchung. Sie ist abhängig von Aufmerksamkeit, Motivation, Fehlverhalten, Sprachdefiziten und kognitive Defiziten des untersuchten Patienten. Eine QST kann nur eine qualitativ gute, verwertbare Aussage liefern wenn der untersuchte Patient gut kooperiert.

QST hat keinen eigenen Diagnosewert und sollte als zusätzliches Diagnosewerkzeug verwendet werden. Es muss in einen weiten Kontext gestellt und zusammen mit den Ergebnissen klinischer Untersuchungen am Krankenbett, Schmerzfragebögen, Studien zur Geschwindigkeit der sensorischen Nervenleitung (Elektroneurographie) und somatosensorisch evozierten Potentialen interpretiert werden.

Referenzen

Backonja MM, Attal N, Baron R, Bouhassira D, Drangholt M, Dyck PJ, et al. Value of quantitative sensory testing in neurological and pain disorders: NeuPSIG consensus. Pain. 2013;154(9):1807-19.

Maier C, Baron R, Tolle TR, Binder A, Birbaumer N, Birklein F, et al. Quantitative sensory testing in the German Research Network on Neuropathic Pain (DFNS): somatosensory abnormalities in 1236 patients with different neuropathic pain syndromes. Pain. 2010;150(3):439-50.

Baron R, Forster M, Binder A. Subgrouping of patients with neuropathic pain according to pain-related sensory abnormalities: a first step to a stratified treatment approach. The Lancet Neurology. 2012;11(11):999-1005

Egloff N, Klingler N, von Känel R, Gander Ferrari M-L, et al. Algometry with a clothes peg compared to an electronic pressure algometer: a randomized cross-sectional study in pain patients. BMC Musculoskeletal Disorders 2011, 12:174

 





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